HARALD NECKELMANN Buchautor
HARALD NECKELMANN  Buchautor 

In dieser Sendung berichten Menschen über sechzig aus ihrem Leben, hier wird die fast verschwundene Kunst des Erzählens gepflegt. Die Erzählerinnen und Erzähler sind zwar nicht im Sinne der objetiven Geschichtsschreibung "Zeitzeugen", doch in ihren subjektiven Erinnerungen - unmittelbar, emotional und sehr persönlich - spiegelt sich die Geschichte des deutschsprachigen Europas in diesem Jahrhundert. Es kommen nicht nur prominente Politiker/innen, Schauspieler/innen oder Schriftsteller/innen zu Wort, sondern auch Durchschnittsbürger/innen, die aus ihrer Kindheit und Jugend, aus Krieg und Nachkriegszeit, von ihrer Emigration oder vom Widerstand erzählen. Dabei ist das, was uns diese Menschen überliefern, nicht weniger wichtig als die Art, wie sie es tun.

Coco Schumann

 

(Sendetag 2.1.2002)

Grete von Zieritz

 

"Ich wurde als weiblicher Komponist während meines ganzen Lebens unterdrückt, und das hat mich geprägt!" - Deutschlands älteste Komponistin Grete von Zieritz, 102 Jahre alt, spricht über ihr Leben und ihre Musik



Sie ist nicht nur die älteste Komponistin in Deutschland, sondern eine der ersten Frauen überhaupt, die sich in der Männerdomäne der "Ernsten Musik" durchsetzen konnte. Grete von Zieritz, am 10. März 1899 geboren, stammt aus einer österreichischen Offiziersfamilie; als Wunderkind am Klavier machte sie früh von sich reden: Das rhythmische Geklapper der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster in Wien inspirierte die Siebenjährige bereits zu eigenen Kompositionen, doch die Eltern wollten sie zur Konzertpianistin ausbilden lassen. Dazu kam Grete nach Berlin, um den letzten Schliff zu erhalten - doch sie kehrte nicht zurück. Vielmehr überwarf sich die junge Frau mit ihrem Vater und musste sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen - kein leichtes Unterfangen, denn die Musik, die Grete von Zieritz komponierte, fand nicht sofort das entsprechende Interesse. Zwar wurden zahllose Kammermusikwerke, Lieder- und Orchesterstücke aufgeführt und für gut befunden - die fiannzielle Unabhängigkeit, um eine Oper oder Ballett zu komponieren, blieb ihr aber verwehrt. So musste sie ständig die Musik anderer spielen, als Klavierbegleiterin oder Kammermusikpartnerin: Geld verdienen im Konzert, zu Hause üben und komponieren, mehrere Stunden täglich, keine Zeit für die Ehe (die prompt auch nur sehr kurz war) und die Tochter. Wenn Grete von Zieritz das Wort "Zwölftonmusik" hört, verzieht sie verächtlich das Gesicht. Sie hält in ihrem langen Leben an einem freien, unterschiedliche Traditionen aufgreifenden Stil fest. Rückblickend sagt sie: "Ich wurde als weiblicher Komponist während meines ganzen Lebens unterdrückt, und diese Unterdrückung hat wie ein blutroter Faden meine Existenz geprägt und hinterließ schwere Narben."

 

(Sendetag 6.1.2002)

Heidi Hetzer

 

"Ohne Auto fühle ich mich wie amputiert!" - Heidi Hetzer, 65-jährige Rallyefahrerin aus Berlin



Heidi Hetzer fuhr Lambretta - das war 1953, als sie ihr erstes Rennen bestritt. Aufs Rennauto stieg sie 1960 um, da war sie 22. Seitdem fährt Heidi Hetzer, die Besitzerin eines Berliner Autohauses, Rallyes. In ihrem "Rennstall" stehen gegenwärtig 23 Oldtimer, mit denen sie sich jetzt noch etwa viermal im Jahr in legendäre klassische Rennen stürzt wie die "Mille Miglia", das Autorennen von Brescia nach Rom und zurück, oder die "Carrera Panamericana", die tausende von Kilometern lange Hatz von Panama nach Alaska. Heidi Hetzer ärgert sich noch immer, wenn bei einem Rennen das Auto streikt und die Mechaniker vermuten, es liege an ihr. Meist repariert die 65-jährige Mutter und Geschäftsfrau selbst: Schließlich hat sie 1954 im elterlichen Autohaus Kfz-Mechanikerin gelernt.

 

(Sendetag 26.10.2003)

Willy Sommerfeld

 

Willy Sommerfeld, mit 100 der älteste Stummfimpianist der Welt



Eigentlich wollte sich Willy Sommerfeld nur vorübergehend seinen Lebensunterhalt als Filmbegleiter verdienen, als er in Berlin am Sternschen Konservatorium Komposition und Dirigieren studierte. Doch damit wurde er bekannt, das prägte sein bis jetzt 100jähriges Leben. Den Film, den er dann musikalisch untermalt, hat er nie gesehen. Was er, ohne den Blick auf die Leinwand zu richten, spielt, und das noch heute - besonders vor jungen Leuten -, fällt ihm spontan ein: eine Mischung aus Improvisation und Paraphrasierung von Schlagern der Zeit, Salonmusik und klassich-romantischen Charakterstücken. Willy Sommerfeld will nur wissen, ob es ein lustiger oder trauriger Film ist, Dur oder Moll? Als Willy Sommerfeld ins Rentenalter kam, hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder Rentner sein oder weiter machen am Piano. Er machte weiter, spielte im Winter bei der Berlinale, wurde wieder entdeckt. Zum wievielten Mal eigentlich?

 

(Sendetag 10.6.2004)

Eva Ebner

 

Eva Ebner, Regieassistentin von Douglas Sirk



Eva Ebner begann erst mit 64 Jahren, als Schauspielerin kleine Rollen zu übernehmen, etwa in dem Film "In 80 Tagen um die Welt". Bekannt geworden ist sie als "Deutschlands bekannteste Regieassistentin"; in ihrer langen Karriere stand die heute 83jährige an der Seite der Großen der Branche: Douglas Sirk, Wolfgang Staudte, Fritz Lang und Alfred Vohrer. "Das Wichtigste an der Arbeit des Regieassistenten ist die absolute Loyalität zum Regisseur", hat sie früher einmal gesagt. "Der Regieassistent muss alles tun, was von ihm verlangt wird!" Auch die Schauspieler fügen sich demütig in alles, was die Regisseure mit ihnen vor haben - doch anders als die Assistenten werden die Akteure wenigstens auf der Bühne oder im Film mit Szenenapplaus oder Bildern belohnt, für die andere Menschen eigens kommen. Deshalb hat Eva Ebner später auch die Seiten gewechselt und hat inzwischen in etwa 250 Filmen in Nebenrollen mitgewirkt - selbst Regie wollte sie nie führen: "Regisseuer zeigen sich immer von zwei Seiten", sagt sie, "die eine Seite hat viel mit Macht zu tun!"

 

(Sendetag 11.12.2005)

Sophie Templer-Kuh

 

„Paradiesvogel zwischen Freud und Jung“ – Sophie Templer-Kuh, Tochter des Psychoanalytikers Otto Gross



Nur durch einen Zufall entdeckte sie den Namen ihres Vaters. Als sie in einem Wiener Antiquariat ein Buch in der Hand hielt mit dem Titel "Anton Kuh. Das war mein Onkel!", nickte der betagte Inhaber und sagte: "Anton Kuh habe ich oft im Café Central gesehen, zusammen mit dem kokainsüchtigen Dr. Gross". Und er zeigte ihr eine Biografie über Otto Gross, den "Paradiesvogel zwischen Freud und Jung". Sie erkannte den Namen und wusste, ihren Vater gefunden zu haben. Sophie Templer-Kuh, 1916 als uneheliches Kind von Marianne Kuh und Otto Gross geboren, ging mit acht Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin, wo ihre Mutter den Schriftsteller Alexander Solomonica heiratete. Ihren Stiefvater nannte Sophie Vater. Über Wien emigrierte sie, die junge jüdische Frau, in den 30-er Jahren nach England, heiratete, siedelte nach kurzem Deutschland-Aufenthalt in die USA über - um 1982, inzwischen Mitte 60, nach Europa zurück zu kehren. Sie las über ihren Vater Otto Gross, den sie nie kennen gelernt hatte, über den sie aber durch gründliche Recherchen dann viel erfuhr. In diesen Tagen wird sie 90 Jahre alt.

 

(Sendetag 12.11.2006)

Link:

http://www.wdr5.de/sendungen/erlebte-geschichten/s/d/12.11.2006-07.05/b/paradiesvogel-zwischen-freud-und-jung.html

http://www.wdr5.de/sendungen/erlebte-geschichten/s/d/11.12.2005-07.05/b/immer-in-der-zweiten-reihe.html (auch zum Hören)

Auftritt in dem Dokumentarfilm "Die Vatersucherin" (Sandra Löhr, 2008). Der Film zeigt die 88-jährige Jüdin Sophie Templer-Kuh bei der Suche nach ihrem österreichischen Vater, dem Anarchisten und Psychoanalytiker Otto Gross.

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